Beiträge

Das Bild und seine Betrachtung

„Denken heißt, wieder sehen lernen, aufmerksam sein.“
Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos

 

Ich möchte hier einige Anmerkungen uzt meinem Kunstverständnis machen und dabei vor allem auf das V Verhältnis von Bild und Betrachter eingehen, wie ich es mir denke. Ich greife dabei Anmerkungen auf, die ich aus Gesprächen in den bisherigen Ausstellungen gewonnen habe.

Es geht mir dabei sowohl um die Frage, welche Ausstrahlung ein Bild haben kann, welchen wesentlichen Anteil der Betrachter an der Wirkung von Kunstwerken hat. Diesen Anteil möchte ich Betionen. Damit wird dem DIALOG, der zwischen Bild und Betrachter stattfinden kann, sein Recht (zurück)gegeben. Von daher denke ich hier darüber nach, welche HALTUNG am ehesten geeignet ist, sich die Qualität eines Bildes zu erschließen, damit die vom Künstler wie vom Betrachter erhoffte BEGEGNUNG und der einhergehende Kunstgenuss eintreten kann.

Angelus Silesius, neben Tauler und Meister Eckhart der dritte große deutsche he Mystiker, sagt:

„Ist der Mensch müßig, dann begreifet ihn die Sache.“

Silesius sagt also nicht, dann begreift er, der Mensch, die Sache, sondern er betont, die Sache begreift den menschen. Der Dialog zwischen Bild und Menschen wird hier also als etwas gesehen, bei dem sie Sache, das Bild, den Betrachter „begreift“.

Das wird klarer, wenn man die Herkunft des Wortes „begreifen“ betrachtet: „begreifen“ meint im Mittelhochdeutschen und Althochdeutschen anfassen, tasten, und letztlich: verstehen durch „berührt werden.“

Wenn der Mensch müßig ist, heißt das also, „berührt“ ihn die Sache, lässt er sich überhaupt erst berühren, anrühren. Und dann „begreift“ er sie auch in unserem heutigen Wortverständnis. Allerdings nur unter der genannten Voraussetzung, dass er müßig wird, Muße hat.

„Ist der Mensch müßig, dann begreifet ihn die Sache.“

Allerdings geht es dabei um eine Muße, in der man durchaus tätig ist im aufmerksamen Wahrnehmen; es geht um ein Schauen, das sich frei macht von allen Vorannahmen und Vor-Urteilen und das Phänomen Bild „einfach“ mal so nimmt, wie es erscheint. Das können wir (wieder) von den Kindern lernen, die im selbstvergessenen Spiel die Dinge der Welt so nehmen, wie sie da sind und sie sich dann im Spiel produktiv aneignen.

Für das 20.Jahrhundert hat dies der Künstler Willi Baumeister (1889 – 1955), Maler, Bühnenbildner und Professor an der Stuttgarter Akademie, in seiner Schrift „Das Unbekannte in der Kunst“ in Anspielung auf den genannten Satz von Silesius so formuliert:

„Es musste (…) der Zustand der Gegenüberstellung zwischen Betrachter und Kunstwerk überwunden werden. Das Müßigsein ist (dabei) ein Vorstadium zu der Einheit (zwischen Betrachter und Bild), die der Betrachter als Zustand erreichen soll.“

Meister Eckhart sagt es so:

Der Mensch muss sich von all dem, was ihn umtreibt, „auszuleeren versuchen“, er muss leer werden, um von der Sache ergriffen werden zu können. Dann kann er ein Resonanzboden, ein Klangkörper werden, der in Offenheit auf das Bild reagiert und sich ihm stellt. Dabei geht es weniger um Anstrengungen des Intellekts, sondern um Gefühle und Empfindungen, Farbempfindungen etwa – und damit um eine intime Dialogik.

Und da treffen sich Betrachter und Künstler:

Die Gemeinsamkeit liegt, und das wird Sie nach dem zuvor Gesagten vielleicht nicht mehr verblüffen, in der für den Künstler wie den Betrachter notwendigen Passivität. Passivität als eine Haltung, deren Hauptmerkmal das aufmerksame Sehen ist – eine Haltung, wie sie die Griechen unter dem Begriff „theoria“, Theorie, fassten: betrachtend die Welt verstehen. Und dann „denken“ wir auch, so, wie es Camus im vorangestellten Motto versteht.

Welcher Betrachter ist dann derjenige, den Baumeister meint?

Ich zitiere aus dem Kapitel, in dem Baumeister dem voreingenommenen Betrachter den naiven gegenüberstellt:

„Der naive Betrachter ist im Besitz von Vorurteilen. Er bringt keine übermäßige Vorbelastung durch gedankliche Reflexionen mit. Aber: Seine Vorurteile liegen nicht tief. Indem er mit Schauen beschäftigt ist, stellt er viel weniger Forderungen. Dadurch trifft das Geschaute diejenige Aufnahmezone, die es zu treffen gilt.“

Der naive Betrachter lässt sich nicht durch sich selbst zu einem Urteil drängen, zu einer sofortigen Stellungnahme…sondern diese reift heran. (…) Es ist dies auch weitgehend die Eigenart des künstlerischen Menschen, dessen Aktivität nicht gemeiner Art ist, sondern die große Linie der Passivität mitenthält…(…)“.

Baumeister fasst das Verhältnis Kunst – Betrachter dann, uns alle ermutigend, so zusammen:

„Kunstbetrachtung ist ein einfacherer Vorgang als allgemein angenommen wird. Der Zustand des Betrachters (also der Zustand so, wie Sie sich hier heute fühlen und befinden, in der Freude wie in der Sorge dieses Tages) ist sein Ausgangspunkt, nicht seine „Meinung“ oder der „gesunde Menschenverstand“. Beide sind verdächtig, von der jeweils herrschenden Durchschnittlichkeit bestimmt zu sein. Andererseits ist Kunstbetrachtung nicht ein Vorgang, der der Mahlzeit eines kleinen Kindes vergleichbar sei, das den ihm eingelöffelten Brei schluckt.“

Und dann pointiert Baumeister es sehr schön: „Das Kunstwerk ist keine total geöffnete Plattheit, sondern es gleicht eher einem vierzeiligen Vers, dessen letzte Zeile fehlt (…)“.

Ich möchte Sie ermuntern, vor meinen Bildern diese „vierte Zeile“ zu ergänzen aus ihrer ganz persönlichen, individuellen Begegnung heraus.

Viel Muße und Freude dabei!

Reinhold Spratte Rede zur Eröffnung einer Ausstellung in Hagen
März 2010

Cookie-Einstellungen
Auf dieser Website werden Cookie verwendet. Diese werden für den Betrieb der Website benötigt oder helfen uns dabei, die Website zu verbessern.
Alle Cookies zulassen
Auswahl speichern
Individuelle Einstellungen
Individuelle Einstellungen
Dies ist eine Übersicht aller Cookies, die auf der Website verwendet werden. Sie haben die Möglichkeit, individuelle Cookie-Einstellungen vorzunehmen. Geben Sie einzelnen Cookies oder ganzen Gruppen Ihre Einwilligung. Essentielle Cookies lassen sich nicht deaktivieren.
Speichern
Abbrechen
Essenziell (1)
Essenzielle Cookies werden für die grundlegende Funktionalität der Website benötigt.
Cookies anzeigen