PERSÖNLICH
„Die Welt wird mir zum Motiv“
Ein Gespräch mit Reinhold Spratte
Der ausgebildete Maschinenschlosser und studierte Gymnasiallehrer Reinhold Spratte wurde 1942 im niedersächsischen Hagen am Teutoburger Wald geboren. Inspiriert von den Gemälden van Goghs erwuchs in ihm der Wunsch, selbst künstlerisch-praktisch tätig zu werden. So entstanden in seiner Zeit als Lehrer Holzschnittarbeiten und Zeichnungen in unterschiedlichen Techniken. Nach seiner Pensionierung konnte Spratte sich vollends der intensiven künstlerischen Arbeit widmen. Heute malt und zeichnet er gegenständlich wie ungegenständlich und ist immer wieder fasziniert von Bäumen und Holz in allen Formen und Verformungen. David Hornemann v. Laer besuchte den Künstler in seinem Wittener Atelier und sprach mit ihm über Hingabe an das Tun, über Neugier auf die Welt und ihre Wahrnehmung.
David Hornemann v. Laer (DHvL): Was hat Sie veranlasst, sich künstlerisch zu betätigen?
Reinhold Spratte (RS): Meine Herkunft aus einer einfachen Arbeiterfamilie hat mir immer schon den Zwang auferlegt, eigene Wege zu finden, die den traditionellen entgegenstanden. Sie hat mir aber auch die Chance eröffnet, Eigenes immer neu entdecken und entwerfen zu dürfen. Der Impuls, den Pinsel in die Hand zu nehmen, kam durch eine schwere Erkrankung um das Jahr 1990 herum. Rilkes Gedichtzeile: „Du musst dein Leben ändern“ im Bewusstsein, begann ich von da an kontinuierlich zu zeichnen und ein Tagebuch zu führen. Eine bewusstere Lebensführung verband sich mit dem Bedürfnis nach kreativer Weltgestaltung (in den Jahren zuvor vor allem als Gartenkunst praktiziert). Mit der Pensionierung begann eineVertiefung der Kenntnisse und Erfahrungen in der Ausweitung auf die Malerei, eine Erprobung in einer neuen Form von Kreativität. Ich entdeckte daran die Freude am (autodidaktischen) Selber-Finden. Gegenwärtig mit einer Ausweitung auf Arbeiten am Holz, genauer: an Fundstücken, wie die Natur sie hinterlassen hat; Bewunderung für ihre Formen als Ausdruck ihres Lebens als Natur.
DHvL: Wie erleben Sie sich selbst beim Kunstschaffen?
RS: Freudig und auch gelegentlich verzweifelt, neugierig und kritisch, demütig und stolz, im Ergebnis aber letztlich tief befriedigt und vor allem beruhigt. Gelegentlich bin ich auch von mir überrascht: woher kommt dieses Bedürfnis, gerade dies und gerade so zu malen? Fasziniert bin ich auch immer wieder davon, was im Kunstschaffen alles zum Vorschein kommt, ohne es zuvor geplant oder vorgestellt zu haben. Zentral: die Frage des Mutes, sich immer wieder neu zu entscheiden, die „Schwelle“ vom guten zum besseren Bild zu überschreiten, aus der Möglichkeit eine Wirklichkeit zu gestalten mit dem Ziel, etwas zu schaffen, das in sich selbst Bestand hat. Sich mit Haut und Haar stellen, wie man ist, und sich bedingungslos dem hingeben, was sich im Bild entwickeln will – das ist die Herausforderung.
DHvL: WelcheVoraussetzungen braucht es Ihrem Erleben nach für die Produktion eines Kunstwerks?
RS: Neugier auf die Welt, Liebe zur Einsamkeit (das Atelier als Kokon), Freude an produktiver, nicht nur rezeptiver Tätigkeit. Bei mir als ehemaligem Lehrer auch die Ausweitung der pädagogischen Kreativität in den Bereich der Kunst (auch die Erziehung kann eine Kunst sein). Willenskraft und Durchhaltevermögen, aber auch Leichtigkeit, Schwung und ein „Fließen-Lassen-Können“, das allerdings erst aus der dauernden Übung erwächst. Spontanes entsteht tatsächlich (etwa in meinen Tuschezeichnungen), aber auf der Grundlage von intensiver Arbeit. So ist das tägliche Zeichnen eine Basis „spielerischer Leichtigkeit“. Zentral: Sehen lernen, Sehen üben.
DHvL: Was verstehen Sie unter „Sehen“?
RS: Ich erlebe, wie das dinglich durch den Begriff so eindeutig und fest Fixierte sich mir im Sehprozess verflüssigt. Im fortgesetzten Üben des Sehens gelingt es mir, offen zu sein, d.h. die Eindrücke an mich möglichst nahe heranzulassen, sodass sie in mir wirksam werden können. Ich bin in solchen Momenten nicht mehr getrennt von der Welt, sondern tauche gleichsam in sie ein. Dann, in ein Bild verwandelt, bewahrheitet sich für mich die Aussage Paul Klees: „Die Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“
Zum Beispiel kommt es vor, dass ich mit dem Bus fahre. Ich sehe dann nicht nur den gelben Fahrkartenstempelautomat, sondern denselben auch als Farbgefüge innerhalb anderer Farbflächen. So kann sich auch das Bild eines ganzen Busses in ein Gefüge aus Farben und Formen verwandeln. Aber auch Gesichter und Hände eines Menschen können sich für mich, wenn ich anfange, sie zu sehen, zu einem lebendigen Liniengeflecht verdichten, das ich etwa in einer Blindzeichnung aufmerksam verfolge und so in völlig neuer Weise sehen lerne. Und es gibt natürlich auch das Sehen des Bildes im Malprozess selber; da wiederum macht das Bild selber etwas mit meinem Sehen: Die Farbe Indigo zum Beispiel, gemischt mit Bordeaux-Rot, erzeugt in mir eine ganz bestimmte Stimmung, die zu einer Intensivierung der Erfahrung führt und den Blick auf das Bild verändert. So zeigt mir das Bild dann den weiteren Weg, wie ich mit ihm zu verfahren habe, wenn ich ihm die nötige Zeit lasse.
DHvL: Welche Hindernisse und Fördernisse erfahren Sie beim Kunstschaffen?
RS: Fördernisse: offene, wohlwollende Kritik von Menschen, die ich schätze; gemeinsames Sehen mit einem Freund in einem wöchentlichen Treffen, vor allem vor einem Bild, mit dem ich „kämpfe“. Menschen, die einen entlasten, sehen oft „mehr“ als ich selbst (der Künstler als der, der vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht). Museumsbesuche als Anregung zum eigenen Schaffen.
Hindernisse: Andere Notwendigkeiten des Alltags schieben sich vor. Wesentlicher aber die Hemmnisse, die in mir selber liegen, vor allem in der manchmal zu kritischen Beurteilung der eigenen Kunst.
DHvL: Was zeichnet für Sie ein gelungenes Kunstwerk aus?
RS: Ein gelungenes Kunstwerk verwandelt für mich Möglichkeit in Wirklichkeit. Dabei spielt die Sorgfalt der Erstellung eine wichtige Rolle: fehlt ihm nichts, verspüre ich nicht mehr das Bedürfnis, etwas hinzuzutun oder aber etwas wegzunehmen, dann ist es gelungen. Ich kann es dann loslassen. Es steht für sich. Ein gelungenes Kunstwerk erzeugt „Präsenz“ durch seine Originalität – diese nicht als „Neuheit“ verstanden, sondern alsVerwandlungskraft.
Ein gutes Kunstwerk ist auch ein Rätsel. Die Beschäftigung mit ihm eröffnet die Möglichkeit der Irritation und der damit verbundenen Faszination. Ein gutes Bild wird einfach nie langweilig! Ein vollendetes Kunstwerk ermöglicht einen neuen Blick auf (scheinbar) Bekanntes. Es durchbricht gewohnte Sehweisen und Normen, würdigt die Dinge, gerade auch die kleinen und unauffälligen, aber auch die hässlichen, und setzt sie in ein neues Licht. Das Kunstwerk macht Erstaunen und stimuliert, es auch so gut machen zu wollen.
DHvL: Gibt es in Ihrem Alltag Erfahrungen, die Sie mit dem in Verbindung bringen, was sie im Atelier tun?
RS: Zunächst in der Weise, dass ich Befriedigung finde in einem sinnvollen Tun. Dass ich Ruhe finde. Es geht dabei auch um Strategien, sich in der eigenen Arbeit zu Hause zu fühlen. Dann, dass diese Tätigkeit in mir selber etwas verwandeln kann, Unruhe zum positiven Agens wird, Freude aufkommt. Das Sehen wird kontinuierlich geübt und Details, Bewegungen, Blickwinkel werden wahrgenommen; auch hier die Faszination des scheinbar Alltäglichen, etwa in der Handhaltung einer alten Frau.
Aber auch, dass ich auf der Suche nach Spuren bin – geologischen, historischen, mentalen … dem, was von der Natur wie vom Menschen an Spuren gesetzt oder hinterlassen wurde, was sich als Spur abzeichnet. Und diesen Spuren versuche ich dann in meiner Malerei nachzugehen. Von daher auch mein Interesse an altem, durch eine Geschichte hindurchgegangenem Holz, das mir mein Finderglück zuspielt. „Totholz“, das ich durch Malerei wieder zu einem „Lebensquell“ zu machen versuche (was es ja im Kreislauf der Natur auch ist). Und immer wieder: der Impuls zum Aufgreifen und Verwandeln durch die Kunst. Die Welt wird mir so zum Motiv.
DHvL:Was würden Sie als Ihr wichtigstes Kunsterlebnis bezeichnen?
RS: Ein einziges finde ich nicht; über die Jahre schälen sich da verschiedene heraus. Genannt seien hier nur: Lucas Cranachs Bild vom „Sündenfall“, dessen Darstellung einer selbstbewusst-verführenden Eva die katholische Dogmatik und damit ein ganzes Programm möglicher Schuldzuweisungen zerbricht. Gerhard Richters Bild „Grau“, das die unterschätzten Möglichkeiten gerade dieser Farbe vor Augen führt. „Die Bauernschuhe“ von Vincent van Gogh und die damit einhergehende neue Auffassung von Schönheit.
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DHvL:Was ist das Ziel Ihres Kunstschaffens?
RS: In meiner Kunst geht es mir darum, das Eigene zu entdecken und stetig zu verfolgen und dabei offen zu bleiben für die Wahrnehmung der Welt in allen ihren Aspekten – auch den hässlichen. Die Freunde und die wohlwollenden Blicke der Betrachter meiner Kunst helfen mir dabei, den Blick zu schärfen, so dass das Eigene Kontur bekommt. Im Kern geht es darum, das Faszinierende der Welterfahrung und auch Weltbejahung im Bild festzuhalten. Aber auch der Schmerz kann als eine vitale Form der Melancholie verstanden und künstlerisch verwandelt werden. Wunderbar bleibt, in allem Wirklichen die Möglichkeit zu sehen zur Gestaltung undVollendung in der Kunst.
DHvL: Herzlichen Dank für dieses Gespräch!
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