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Einführungsvortrag

Zur Ausstellung im Forschungs- und Entwicklungszentrum Witten, März/April 2010

Von Daniel Recklinghausen, Solingen

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

erlauben Sie, dass ich Sie auf einen kleinen Gedankenflug entführe, bevor Sie sich ungehindert dem Kunstgenuss hingeben dürfen.

Prüfen wir für dieses Unternehmen zunächst die Startrampe. Das Bild vom Gedankenflug ist mit List gewählt. Metaphorisch beschwingt lenkt es ab von einem lästigen Dilemma, in dem sich, seit es künstlerische Produktion gibt, jeder befindet, der über sie redet. Denn die Kunstwerke sind schon da, bevor sie kommentiert werden. Und sie würden ihre eigentümliche Wirkung auf die Betrachtenden und die Lauschenden auch dann ausüben, wenn kein Wort über sie gesprochen würde.

Die Lage ist aber noch verwickelter. Das Kunstwerk, beispielsweise eine Sonate oder ein gemaltes Bild, erscheint zwar an sich außerhalb aller Diskurse und vor ihnen. Doch es existiert keineswegs für sich. Es setzt die Augen, die Ohren und die Empfänglichkeit der nicht am künstlerischen Prozess Beteiligten voraus; es ist angewiesen, mit einem Wort, auf das Publikum, also auf uns. So sind wir nun wieder mit im Spiel, auch − um mit Wittgenstein zu reden − als »immer schon Sprechende«, das heißt: als miteinander Sprechende, und dies schließt das Sprechen über Kunst mit ein.

Wir sind offenbar zugelassen. Aber was lässt sich sinnvollerweise über ein gemaltes Bild, über eine Mehrzahl von Bildern eines Künstlers sagen?

Zwischen Reinhold Spratte und mir besteht Freundschaft seit nahezu vier Jahrzehnten − ein Zeitraum, der einen großen Teil der produktiven Biographie des reifen Mannes einschließt. Da liegt es nahe, den Zugang zum Werk über die Lebensgeschichte zu erproben − auch dann, wenn Spratte schon in der Schulzeit und in der Schlosserlehre gemalt und gezeichnet hat, als ich ihn noch nicht kannte, ein Lebensabschnitt also, der sich mir erst im Bericht erschlossen hat.

Als Reinhold Spratte und ich einander um 1972 begegneten, spielte das Gespräch über Kunst schon eine Rolle, wenngleich nicht im Sinne einer Diskussion über eigene Werke. Im Brennpunkt standen vielmehr sprachliche Schöpfungen, die bildende Kunst nur am Rande. Wir prüften die Brauchbarkeit des im Studium von Literaturgeschichte und Philosophie erworbenen Wissens bei der Untersuchung der − nun lachen Sie ruhig − der Ausbeutungsverhältnisse, in denen die für Lohn arbeitenden Menschen unserer Gegenwart steckten. Solche Überlegungen stellten wir − natürlich − mit der Maßgabe an, diese Verhältnisse anzugreifen und zu verändern. Jede andere Zielsetzung wäre uns als Zeitverschwendung erschienen.

Die erlernte wissenschaftliche Disziplin konnten wir bei diesem Vorhaben durchaus als hilfreich erkennen. Denn zur Vorbereitung und fortlaufenden Korrektur des Angriffs auf die Knechtung war jeweils die − wie es heißt − »konkrete Analyse der konkreten Situation« zu liefern und nebulöse Generalisierungen zu vermeiden. Unterdrückung und Kräfteverhältnisse erkunden, fest- halten, das Wesentliche herausarbeiten, berichten. Dazu mindestens hatte Lenin ermutigen können. Ein Lichtstrahl der Aufklärung, von ihm in finsterer Zeit gehütet, hat uns damals erreicht.

Ob wir das so hätten formulieren wollen, weiß ich nicht. Bei Reinhold Spratte waren jedenfalls die Grundimpulse zu konkreten Erkundungen bereits zu jener Zeit entwickelt. Und dies interessanterweise in genau demjenigen Verständnis, das uns heute zusammenführt: der Konkretion im Visuellen. Denn ohne dass ich es erkannt hätte, war Spratte seit langem Zeichner, vielleicht auch Maler − sicher nicht im professionellen Sinn, eher als Jemand, der sich zu seiner Umwelt in Beziehung setzt.

Er machte davon nicht viel Aufhebens. Beiläufig zeigte er mir gelegentlich Aquarelle, die Landschaften darstellten, in einem Format, das nur wenig über dem unserer Flugschriften lag. Ich hielt die Blätter für Ergebnisse einer Freizeitbeschäftigung, die auch bei im Übrigen ernsthaft arbeitenden Menschen erlaubt war.

Ich hätte es besser wissen müssen. Denn mein Freund und Denkgefährte Reinhold Spratte, der Literaturwissenschaftler, Philosoph und Pädagoge, der nicht nur das Arbeiterumfeld seiner Herkunft und den erlernten Handwerksberuf hinter sich gelassen hatte, sondern auch den Fangarmen des bischöflichen zweiten Bildungswegs sowie eines bereits begonnenen Studiums der katholischen Theologie erfolgreich entglitten war, dieser Mann eignete sich ja keineswegs zum Kandidaten für naive Feierabendbeschäftigungen.

Schrittweise, im Zeitmaß auch der Unterbrechungen in unserem Kontakt, wurde mir der Ernst seiner zeichnerischen Anstrengungen erkennbar, nämlich als Etuden, als systematische Schulung der Fähigkeit zu genauer Beobachtung, als Einübung der Zusammenarbeit zwischen erkennendem Blick und wiedergebend gestaltender Hand. Der Weg von der Netzhaut aufs Papier: Thematischer Schwerpunkt beim Freund die vegetative, die mineralische Form, oft Baumrinden, Astverzweigungen, Stein-und Erdoberflächen. Da schälte sich etwas Neues im Bekannten heraus:

Die mimetische Praxis, die nicht für sich selbst schon künstlerische Gestaltung bedeutet, aber unfehlbar auf dem Weg zu ihr liegt und in der Näherung die Probe auf den erreichten Bildungsstand liefert. Geblieben war das geistige Profil, das Grundmuster der fortschreitenden Untersuchung: Erkunden, festhalten, das Wesentliche herausarbeiten, das Geschaffene der Kritik aussetzen. Um die Mitte der neunziger Jahre gab es nach meiner Erinnerung ein Signal, das in der Gewichtung der bildnerischen Arbeit bei meinem Freund etwas grundsätzlich Neues ankündigte. Widersprüchlich genug deutete es sich zuerst in der schieren Menge der entstehenden graphischen Blätter an. Wahrscheinlich hat Spratte in diesem Zeitraum mehr Zeichnungen fertiggestellt als in allen übrigen Abschnitten seines Lebens zusammengenommen. Mir jedenfalls fiel zur Charakterisierung Paul Klees Ausdruck »Zeichenrappel« ein.

Daß dies eine Assoziation mit ominösen Beiklängen war, konnte ich nicht verdrängen. Denn der Maler Klee hatte sie zur Kennzeichnung seines Zustands in der tiefsten Schaffenskrise seines Lebens verwendet, nämlich 1933, als das völkische Deutschland ihn als »typisch galizischen Juden« aus seinem Lehramt an der Düsseldorfer Kunstakademie vertrieb und seinem Werk das Schandmal der »entarteten Kunst« aufdrückte.

Es kann gewiss nicht darum gehen, Parallellen zwischen Reinhold Spratte und Paul Klee zu ziehen. Aber die Erfahrung schwerer und schwieriger Krankheit hatte damals auch im Leben meines Freundes deutliche Spuren hinterlassen.

Inzwischen betrachten wir die letzten fünfzehn Jahre mit den immer kraftvolleren Farbkompositionen Sprattes als die eigentlich wichtigen oder mindestens vorläufig wichtigsten Jahre in der Abfolge seiner Werke. Hatte ich alles falsch verstanden? War mir Wichtiges entgangen? Offenbar gibt der lebensgeschichtliche Erklärungsansatz zum künstlerischen Werk ebensoviele Rätsel auf, wie er löst. Verlassen wir also vorläufig den biographischen Ausguck und erproben wir einen anderen Zugang zu Reinhold Sprattes Bilderwelt.

Manchmal legen Künstler selbst eine thematische Spur. Paul Klee, nachdem sein Name nun einmal gefallen ist, hat seine Bilder oft geistvoll betitelt: Bacchanal in Rotwein, beginnende Kühle und das berühmte Angelus Novus. Aber Klee gehört einer anderen Epoche an. Wenn Reinhold Spratte eins seiner Bilder „Arche“ nennt, dann denken wir nicht an Klee als Stichwortgeber. Doch auch Spratte, wie viele seiner Maler-Vorgänger, legt Spuren.

Eine Spur, von der zu reden wäre, ist im Thema unserer Ausstellung angelegt: FarbFormFuge. Diese Wortbildung steht hier in diesen Räumen über einer beachtlichen Auswahl aus seinem Schaffen. Kann sie zu einem sinnvollen Gespräch über Sprattes Malerei beitragen? Erschließt sie am Ende die Arbeiten eines ganzen Lebensabschnitts in wichtigen Aspekten?

Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergangen ist. Ich selbst konnte mit diesem Titel der Ausstellung nicht ohne weiteres zurechtkommen. Es begann schon mit dem grammatischen Sonderfall des großmächtigen Dreifach-Kompositums FARBFORMFUGE, dem mein eingebauter Sprachteufel gleich ein hämisches »Spitzpudeldachs«! entgegenrief. Da war also erst einmal Ruhe im Parterre zu schaffen. Als nächstes die drei Zutaten einzeln: Farbe, Form, Fuge. Die beiden ersten können passieren als geläufig im kunst- theoretischen Allerweltsverstand. Aber was soll hier die Fuge? Zwischen Farbe und Form kann sich schwerlich eine auftun, also kommt nur der Begriff aus der musikalischen Kompositionslehre in Frage, völlig unbekannt in der Malerei. Oder etwa doch nicht?

Wie läßt sich das Rätsel lösen?

Wer wie ich nur über eine rudimentäre musiktheoretische Bildung verfügt, bewegt sich beim Versuch, eine Antwort zu geben, auf dünnem Eis. Er ist in jedem Fall auf Hilfe angewiesen. Naheliegend, zunächst beim Künstler selbst nachzufragen.

Reinhold Spratte hat mich auf Willi Baumeisters 1947 erschienene Schrift »Das Unbekannte in der Kunst« hingewiesen. Im Zusammenhang seiner Überlegungen zum Eigenwert von optisch erfahrbarer Form, auch von Farbe, die in der Malerei immer geformt wird, im Nachdenken über den Eigenwert von visuellen Kontrasten und Anziehungen, nähert Baumeister sich in diesem Text einer neuen Begründung der bildnerischen Abstraktion. Sie führt die Malerei nach seinem Verständnis in die Nachbarschaft der Musik. Erlauben Sie, daß ich zitiere:

Ungegenständliche Kompositionen sind in gewissem Sinne Parallelen zu Fugen von Bach oder Konzerten von Mozart, zu aller reinen Musik überhaupt.

Tatsächlich verstanden auch große Komponisten der Moderne die Gestaltungsform der Fuge, wie sie im Lauf der letzten fünf Jahrhunderte entwickelt worden ist, als Inbegriff ihrer Kunst. Erst hier, in der rein aus der Lehre vom Kontrapunkt abgeleiteten Mehrstimmigkeit, in der Lösung von allen Schlacken der Programmatik kommt beispielsweise Strawinski zufolge die Musik an das ihr einbeschriebene Ziel. Die Fuge sieht er als »eine vollkommene Form, in der Musik nichts jenseits ihrer selbst bedeutet«.

Hier zeichnet sich der Horizont ab, vor dem Baumeister denn auch vom Bild als einer Form- und Farbfuge sprechen kann.

Wie haben wir die Lage zu verstehen? Ruft Baumeister das Ende der Gegenständlichkeit in Malerei aus? Die Lösung aller Bindungen der bildenden Kunst an die Alltagspraxis der sinnlichen Wahrnehmung, das Schlußsignal für Beschreibung, Nachahmung, Wiedergabe? Und haben wir die Bilder des Malers Reinhold Spratte im Sinn solcher Vorgaben zu verstehen, geht es bei ihm am Ende nur noch um Formfragen, Ästhetizismus, »l’Art pour l’art«?

Sprattes Entlehnung bei Baumeister zielt auf Anderes. Der Text von 1947 zeichnet Entwicklungen nach, an die nach dem kulturellen Absturz zwischen 1933 und 1945 dringend zu erinnern war: Seit hundert Jahren hatte sich in der Malerei die Abhängigkeit zwischen Motiv und Gestaltung gelockert. Die Gestaltung war unabhängiger geworden und in den Vordergrund getreten. Damit gewannen auch die Gestaltungselemente sowie die Gestaltungsmittel stärkeres Eigengewicht. Folgerichtig trat nun die Thematik des Bildes in der Gewichtung einen Schritt zurück.

Geblieben war die Kunst als experimenteller Bewegungsraum der visuellen Erfahrung. Baumeister zufolge ist der kindliche Blick damit beschäftigt, das Sehen allererst zu lernen, das Sehen als Voraussetzung für die Bewegung des Körpers und die Ordnung des Handelns. Indem die Kunst mit dem Angebot bildhaft gestalteter Form- und Farbwelten auftritt, eröffnet sie die Möglichkeit, das kindliche Sehen ohne Altersgrenze weiterzuüben. Die Bilder werden zu Räumen, wo das Neue in Augenschein genommen werden kann. Notwendig zum Gelingen ist nur die Neugier und der Erfahrungshunger, der von Anfang an mitgegeben war.

Für mich ist es kein Zufall, dass Reinhold Spratte den kindlichen Blick, auch als Bildthema gestaltet hat, genauer: den Blick der Kinder durch den Türspalt auf die einladende Welt der Farben und Formen, die vom Licht belebt werden. Alle seine Bilder erscheinen mir als Einladungen zur tastenden Erkundung noch unbetretener visueller Räume. Nie verriegeln sie sich flächig und plakativ. Immer bewahren sie die Erinnerung an das optische Orientierungsgerüst, das wir brauchen, wenn unser Blick beim Wandern nicht stürzen soll.

Es ist auch dies das große, nicht auf Beendigung angelegte Projekt der Aufklärung: Erforschen, festhalten, vorzeigen und weitersagen.

Dazu muß auch der Blick geübt werden am Bekannten wie am Unbekannten. Einer der vor mehr als 200 Jahren selbst galvanische und optische Forschungen betrieben und über sie berichtet hat, war Georg Christoph Lichtenberg. Und wenn es jemals in Deutschland Aufklärung gegeben hat, dann hat er Anspruch darauf, hier genannt zu werden.

Um 1765 machte Lichtenberg sich Gedanken über ein erstaunliches Phänomen. Er notiert:

Der Bauer, welcher glaubt, der Mond sei nicht größer als ein Pflug- Rad, denkt niemals daran daß in einer Entfernung von einigen Meilen eine ganze Kirche nur wie ein weißer Fleck aussieht, und daß der Mond hingegen immer gleich groß scheint, was hemmt bei ihm diese Verbindung von Ideen, die er einzeln alle hat? … Diese Betrachtung sollte den Philosophen aufmerksam machen, der vielleicht noch immer der Bauer in gewissen Verbindungen ist. …Eine gnaue Betrachtung der äußeren Dinge führt leicht auf den betrachtenden Punkt, uns selbst, zurück und umgekehrt, wer sich selbst einmal recht gewahr wird gerät leicht auf die Betrachtung der Dinge um ihn.

Und dann:

Sei aufmerksam, empfinde nichts umsonst, messe und vergleiche; dieses ist das ganze Gesetz der Philosophie.

#Meine Damen und Herren, in meiner Schreibtischschublade liegt seit dreißig Jahren ein inzwischen abgegriffenes Kärtchen, das mir zugesteckt wurde und das vier handschriftliche Zeilen trägt:

Sei aufmerksam, empfinde nichts umsonst, messe und vergleiche; dieses ist das ganze Gesetz der Philosophie. Lichtenberg, Aus den Sudelbüchern

Und darunter steht auf dem Kärtchen:

In Verbundenheit Reinhold

Ich danke Ihnen für ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen noch eine anregende Stunde in der Begegnung mit den ausgestellten Bildern, aber auch im Gespräch, das wir miteinander fortsetzen.

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