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Reinhold Spratte: Katalogtext

Der folgende kleine Aufsatz ist ursprünglich im Katalog zur Ausstellung „Zuflucht suchen – Heimat finden“ erschienen, die in der Passionszeit 2008 in der Johanniskirche Witten durchgeführt wurde. Ich lege ihn hier noch einmal vor, weil er aus meiner Sicht, auch abgelöst vom unmittelbaren Anlass, grundsätzliche Überlegungen zum Zusammenhang von Bild, Raum und Betrachter darlegt und einige, für mein Verständnis von Kunst zentrale Überlegungen zur Diskussion stellt.

Normalerweise werden Bilder „ortlos“ gemalt. Sobald aber ein bestimmter Ort, Beständigkeit und das Heterogene einer öffentlichen Situation ins Spiel kommen, muss ein neues Bild entwickelt werden.“
Mark Rothko

Ein kurzer Rückblick oder: Malmotive – eine Skizze

In den Monaten vor der Ausstellung, aber noch ganz unabhängig davon, in einer Phase schwerer gesundheitlicher Krisen, hatte ich mich intensiv mit nicht-figurativer Malerei beschäftigt. Den Bildentwürfen gab ich in Anlehnung an eine Bemerkung Hanna Arendts aus ihrem „Denktagebuch“ den Titel „Andachtsbilder“. Hannah Arendt stellt dort fest: „…Innerhalb der Situation der Verlassenheit kann nur die Andacht erlösen.“

Was Arendt in diesem Zusammenhang durchdenkt, brachte mich dazu, mich näher auch mit mittelalterlicher Andachtsbildern zu befassen, insbesondere mit Diptychen, in der Regel kleineren Formaten, die es dem mittelalterlichen Menschen erlaubten, auch privat vor einem Bild zu beten und vor und mit ihm zu meditieren.

Malerisch schlug sich dies nieder in immer neuen Versuchen, ein Bild zu entwerfen durch Gestaltung und Komposition geometrischer Formen: Rechtecke, Quadrate, Stelen – und durch Aufteilung der Fläche in vier Einheiten oder Felder, die durch ein Kreuz gebildet wurden oder ein Kreuz bildeten… Warum es diese Form sein musste, hätte ich zu diesem Zeitpunkt nicht zu sagen gewusst, ich spürte nur, dass diese Form sich aufdrängte und nach Gestaltung verlangte.

Es sind viele, nicht unbedingt immer völlig bewusste Einflüsse, die ein Bild entstehen lassen. Dies gilt insbesondere bei jenen Bildern, deren „Idee“ oder „Gestalt“ sich zunehmend erst im Vollzug des Malens enthüllt. Nicht als eine Schöpfung „aus dem Nichts“, sondern sich entwickelnd als Ausdruck der Themen, die Seele und Leib in bestimmten Lebensphasen umtreiben und manchmal sogar imprägnieren. Der Malvorgang selber ist dann schon wieder ein Schritt in die Lösung von dieser „Imprägnierung“ und somit ein Schritt in eine neue Freiheit.

Als die Ausstellung dann geplant war und – entsprechend dem Rhythmus des Kirchenjahres – als „Passionsausstellung“ konzipiert wurde, führte dies dazu, dass ich mich stärker mit dem Bilderreichtum der Bibel befasste. In der Malerei studierte ich zunehmend die Darstellung von Kreuzigungen. Besonders bei den Malern der Flämischen Schule, vor allem bei Rogier van der Weyden, lassen sich vielfältige Varianten erkennen. Ein anderer Blick fiel auf die Kreuzigungsdarstellung des Isenheimer Altares des Matthias Grünewald.

Es ging mir dabei vor allem um die Erfassung der „Körpergeste“ des Gekreuzigten. Ich versuchte im Vergleich vieler Kreuzigungsszenen herauszufinden, welche Körperhaltung eher das Kreatürlich-Menschliche, welche eher das Göttliche ausdrückt. Vor allem aber suchte ich nach einer Körpersprache, in der die „passio“, das Leiden, mit der im christlichen Sinne so gedachten „Erlösung“ eine nachvollziehbare Einheit eingeht. Das schien mir für ein angemessenes Verständnis von „Passion“ vonnöten.

Auch der Zusammenhang von Kreuz und/als Baum, angeregt durch einen Aufsatz von Eugen Drewermann, beschäftigte mich. Grünewald beispielweise zeigt in einer Zeichnung Christus als am Kreuze hängend und entwirft dabei das Kreuz sehr deutlich als nur grob bearbeiteten Baumstamm. Die Symbolik Kreuz/ Lebensbaum wird so angedeutet – so vielleicht auch der Zusammenhang von Kreuzestod und neuem Leben. Ich untersuchte diesen Zusammenhang auch unter dem Aspekt von Krankheit sowohl als Krise wie als Chance…

Meine Bilder – in der Johanniskirche

In der Ausstellung selber, in der ich meine Bilder durch die spezifische Hängung in der Kirche auch noch einmal ganz neu und anders sehen konnte, vertraut und fremd zugleich, stellte sich mir zunehmend die Frage, was meine Bilder in dieser Kirche sein konnten? In einer Kirche, die von einer lebendigen Gemeinde getragen wird!

In welcher Weise „haben“ die Bilder dort „ihren Platz“?

Lenken sie ab von der zentralen Aufgabe des Gottes-Hauses oder können sie sogar zur Erfüllung dieser Aufgabe hinführen? Behindern oder unterstützen sie die Sorge um die Seelen, die „Seelsorge“? Können sie also das Leben der Gemeinde, insbesondere auch das religiöse, bereichern? Wie verhalten sich Bild und Kirche zueinander?

Nun ist das Verhältnis von Kunst und Kirche, insbesondere das der Kirche zum „Bild“, seit den Anfängen im Urchristentum von durchaus unterschiedlichen Auffassungen geprägt. Dies ist auch nicht weiter erstaunlich, da es ja zunächst vor allem um die Frage des „Bildes von Gott“ ging. Und am Anfang der Entwicklung der christlichen Kirche stand das Gebot des Alten Testamentes: “Du sollst dir kein Bildnis von Gott machen“.

Die weitere Entwicklung zeigt dann aber, dass es offenbar immer wieder aus der Mitte der Gläubigen einen Impuls gegeben hat, zunächst Gottesbilder, insbesondere Christusbilder, später dann auch solche der Gottesmutter und der Heiligen in der Kirche aufzuhängen; als Bilder, die man im Gebet anrufen konnte, die helfen sollten, eine Fürbitte zu unterstützen – eingebettet in eine Volksfrömmigkeit, die insbesondere dem einfachen Volk helfen konnte, einen Weg zu Gott zu finden. Zudem musste die Kirche in Zeiten, in denen die meisten Gläubigen nicht lesen konnten, Formen der Verkündigung finden, die das Wort ergänzten; in Bildern wurde die Heilsgeschichte immer wieder neu erzählt, so wie dies mancher Altar auch heute noch zeigt.

Jedenfalls hat sich ein scheinbar tief im Menschen verankertes Bedürfnis nach dem Bild – oft gegen den Widerstand der Theologen – immer wieder durchgesetzt. Dementsprechend aber gab es auch immer wieder Streit, Bilderstreit, mit dem Höhepunkt in der Reformation. Beide Seiten konnten überzeugende Argumente für ihre Position einbringen. Das soll hier allerdings nicht weiter verfolgt werden.

Vor diesem Hintergrund habe ich mir also die Frage gestellt, was meine Bilder in der Johanniskirche sein können, wie sie wirken, zumal dann, wenn sie in Andachten in den Mittelpunkt der sich versammelnden Gemeinde gestellt werden.

Von im engeren Sinne „religiösen“ Bildern kann bei den hier ausgestellten Bildern nicht gesprochen werden. Ermöglichen sie dennoch dem Betrachter jene Muße, die Voraussetzung dafür ist, dass ihn, wie Meister Eckhart es formuliert, „die Sache ergreift“?

Die Auswahl, die vorgenommen wurde, zeigt auch, dass mal mehr die Spannung zwischen dem Fremden des Bildes und dem Glauben, mal eher die gegenseitige Ergänzung gesucht wurde – immer aber die „Reibung“ zwischen Bild und Glaubensinhalt genutzt wurde, um gerade darin und dadurch beides zum Sprechen zu bringen.

Ich will und kann also die oben gestellte Frage nicht abschließend entscheiden, will aber für die Fragestellung sensibilisieren. Menschen kommen jedenfalls in der Kirche zusammen, um in Gemeinschaft Sinn zu erfahren und um ihr Leben zu begreifen.

Wenn meine Bilder in einem Kirchenraum hängen, wirken sie einerseits auf diesen Raum ein und schaffen in ihm eine spezifische Atmosphäre, die sich von der sonst hier herrschenden unterscheidet. Auch hat der Blick auf diesen Raum und das Wahrnehmen seiner Atmosphäre und des in ihm herrschenden „Geistes“ mich zu ganz bestimmten Bildern erst inspiriert („Arche“, „Ohne Titel II“ und „Dornbusch“).

Wesentlicher ist aber für mich der umgekehrte Vorgang: Wie „verändert“ der je spezifische Raum die Bilder, zumal wenn es sich um eine Raum mit einem kultischen und religiösen Anspruch handelt? Genauer gefragt: Entsteht eine Korrespondenz zwischen dem Kirchenraum und dem Bild oder entwickeln sich eher Dissonanzen? Bleibt eine Spannung zwischen dem Bild und dem Raum? Und vor allem: Kann diese Spannung produktiv genutzt werden?

Mark Rothko hat festgehalten: „ Das Bild lebt durch die Gesellschaft eines sensiblen Betrachters, in dessen Bewusstsein es sich entfaltet und wächst“.

Es „lebt“ aber, so möchte ich ergänzen, nur dann, wenn es selber lebt, also eine Kraft enthält, die in der aufmerksamen Begegnung ihre Wirkung entfaltet.

Von daher ist zu fragen, welche Kraft in dieser Kirche in den Bildern aktualisiert oder sogar möglicherweise erstmals deutlich wird? Wie etwa verhilft die Atmosphäre des Raumes und die Haltung der Gemeinde dazu, eine Aufmerksamkeit den Bildern gegenüber zu entwickeln, die spezifisch für diesen Ort ist und möglicherweise heute nur noch an solchen Orten gegenüber der Kunst gefunden wird? Wird da vielleicht sogar – gemessen am schnelllebigen Kunstbetrieb – ein Modell für die Begegnung mit der Kunst deutlich?

Der Kirchenraum ist offenbar nicht ein Raum wie jeder andere und er kann den Künstler nicht nur in seiner Ästhetik interessieren.

Werden leerstehende Kirchen als Ausstellungsraum benutzt, mag die ansprechende „Ästhetik“, etwa gotischer Ruinen, wesentlich sein – in einer lebendigen Gemeinde stellt sich die Frage anders! Denn bei der Ausstellung in der Johanniskirche handelt es sich um den Kirchenraum einer lebendigen Gemeinde: von daher geht es darum, Kunst und Liturgie, Religiosität und Malerei, Ästhetik und Spiritualität in einen fruchtbaren und spannungsvollen Zusammenhang zu bringen. Denn erst dann wird die Ausstellung den Menschen dienen, die in dieser Kirche das Zentrum ihres religiösen Lebens sehen.

Kunst im Kirchenraum aufzuhängen ist von daher nun keineswegs so selbstverständlich, wie es angesichts einer verbreiteten Praxis erscheint.

Das moderne Bild ist ja, im Unterschied zu dem, was sich letztlich trotz des Bilderstreits als Kultbild herausgebildet hat, oft ein Bild ohne „Objekt“ Auch ist das moderne Bild in der Regel nicht „an“ Gott gerichtet, ja nicht einmal an einen Adressaten überhaupt. Es hat auch in der Regel nicht den Anspruch, Gott oder auch nur Göttliches darzustellen. Es hat „lediglich“ den Anspruch, der „Kunst“ zu dienen. Der Maler will ein „gutes“ Bild malen – nicht mehr, nicht weniger. Dass dies einen Dialog zwischen dem Bild und dem Betrachter auch in einem religiösen Kontext nicht ausschließt, ja offensichtlich sogar befördert, soll hier schon angedeutet werden (und wurde am Beispiel der Andachten, deren Texte hier nicht mehr veröffentlicht werden, auch deutlich).

Die Ausstellung begleitete die Gestaltung der Passionszeit und war so in den Ablauf des Kirchenjahres eingeordnet. Von daher und von der Auswahl der Bilder her war sie unter eine thematische Orientierung gestellt, die sich in dem Titel der Ausstellung: „Zuflucht suchen – Heimat finden“ spiegelt.

Der Titel wurde in einem Gespräch mit Pfarrerin Frau Guth gefunden. Zwei Linien liefen dort zusammen: auf der einen Seite der Gedanke von Frau Guth, dass Kirche ein Ort der Einkehr und der Zuflucht sein solle – Kirche wird so gedacht als immer offen für die „Mühseligen und Beladenen“. Auf meiner Seite war es die schon länger andauernde Suche nach einem adäquaten Begriff von „Heimat“, die mich zum Titel führte. Unter anderem meine Tätigkeit in der Städtepartnerschaft mit der polnischen Stadt Tczew beinhaltet naturgemäß diese Thematik, wenn es um eine richtig verstandene Versöhnung zwischen den beiden Völkern gehen soll.

Damit wird schon ein wesentlicher Aspekt von „Kirche“, den die Ausstellung betonen wollte, deutlich: „Zuflucht suchen- Heimat finden“ nimmt offenbar einen wesentlichen Aspekt von Kirche als Raum Gottes auf: als Asyl, als Schutzburg, als Ort, der geheiligt ist und Verfolgten Schutz gab und gibt. Der einführende Vortrag von Dipl. Psychologin Christiane Sanders aus Herdecke (s.Link) akzentuiert diesen Aspekt aus psychologischer Sicht unter dem Begriff der „Beheimatung“.

Die Kirche als „sicheren Hort“ zu verstehen, diesen Aspekt greifen die Bilder in vielfältigen Akzentuierungen von „Beheimatung“ auf und führen so auf den Heimat- und Schutzaspekt von Kirche hin bzw. gruppieren sich um diesen „Hort“ herum:

Die Bilder verstärken durch ihre Gestaltung diesen Aspekt, lassen ihn noch mehr fühlen und rücken ihn in der Gemeinde noch mehr ins Bewusstsein.

Dieser Aspekt hat in den Jahren seit 2008 im Rahmen der von Pfarrer Neuser geleiteten Stadtkirchenarbeit zu einer deutlichen Neuakzentuierung der Empore der Johanniskirche geführt: die Installation einer Lichtstelle und die entsprechende Gruppierung von Grabsteinen hat aus der Empore nun einen Raum der Andacht gemacht. Die Ausstellung war da wohl ein Impulsgeber. Die Thematik der Ausstellung war von daher nichts Aufgesetztes, sondern pointierte noch einmal einen wesentlichen Aspekt von Kirche, insbesondere von Kirche als Kirchen-Raum und als „sicherer Platz.“(safe place).

Neben der thematischen Zuordnung unter dem Aspekt der Kirche als „Hort“ ist aber noch grundsätzlicher zu fragen, welchen Beitrag die Bilder als „Bilder“ in diesem Zusammenhang leisten können.

Wie schon eingangs angedeutet, waren (und sind) die Möglichkeiten des Einsatzes von Bildern, vor allem aber auch deren Notwendigkeit im Rahmen der kirchlichen und im engeren Sinne „seelsorglichen“ Arbeit, in der Kirche (noch) umstritten.

Die Befürworter der theologischen Bedeutsamkeit des Bildes verweisen dabei gerne auf eine Parallele zur Notwendigkeit der Bildlichkeit in der Sprache.

Die „übertragene“ Rede, die Metaphorik, ist notwendiger Bestandteil einer Verkündigung, die die Herzen der Menschen erreichen will. Kann über den Menschen tief bewegende Fragen wie Liebe, Tod, Zeit, Schuld überhaupt ohne Metaphorik, ohne Bildlichkeit gesprochen werden? Ist nicht auch die Bibel reich in ihrer Bildersprache, wenn man etwa an die Gleichnisse des Neuen Testaments denkt? Der Theologe Jüngel stellt von daher lakonisch fest:

„Von Gott ist eigentlich nur dann die Rede, wenn metaphorisch von ihm geredet wird.“

Unter seelsorglichem Verständnis scheint es von daher zur Bildlichkeit der Verkündigung keine Alternative zu geben. Bilder vermögen offenbar tiefere Schichten anzusprechen und setzen sich von daher geschichtlich in der Frömmigkeitsübung auch durch.

In der Schwierigkeit der frühen Kirche, das Bilderverbot des Alten Testamentes zu respektieren in einer antiken Umwelt, die einen üppigen Bilderkult pflegte, wurden von daher dann doch Bilder letztlich selbstverständlich – wenngleich mit unterschiedlichen Begründungen. Hans Belting spricht deswegen von der „Macht der Bilder und der Ohnmacht der Theologen“.

Es ist das Hochmittelalter, das dann das Bild in den Kult und in die Frömmigkeit integriert.

Die Voraussetzung dazu war eine in den Bildern vorfindbare „Sanctitas“, also Heiligkeit:

„In der privaten Frömmigkeit erhielt dieses sakralisierte Bild geradezu Leitfunktion: Zu Betschemel und Stundenbuch kam nun das kleine Andachtsbild.“ (Angenendt)

In der dabei gedachten Korrespondenz von Bild und Betrachter als privatem Meditationsraum wurden die materiellen Bilder aufgewertet – denn sie dienten der Anleitung des Individuums, sich „innere Bilder“ der historischen und der übersinnlichen Gegenstände des Glaubens zu erzeugen. Luther: “Wenn ich Christum höre, so entwirft sich in meinem Herzen(!) ein Mannsbild, das am Kreuze hänget. (Luther, Wider die himmlischen Propheten)

„Denken heißt wieder sehen lernen, aufmerksam sein, sein Bewusstsein lenken, heißt aus jedem Gedanken und jedem Bild etwas ganz Besonderes machen. Paradoxerweise ist alles etwas Besonderes…“

Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos

Andacht als „Beheimatung“

So vorbereitet, können wir am Beispiel der „Andachten“ zu einzelnen Bildern nun präziser fragen, ob das Gemeindeleben durch die Ausstellung bereichert und beseelt wurde.

Dabei verstehe ich Andacht hier „Weg des „persönlich- innerlichen Glaubens, bei Dahinfall alles Sonstigen“ so Luther ( nach Angenendt).

Auf diesem „Weg“ können die Bilder Begleiter sein, und die Andacht kann seelsorglich von Zuversicht zeugen und auch Zuversicht schaffen.

Von daher wird die eingangs thematisierte Frage, welche Wirkung meine Bilder in diesem Kirchenraum und in einer lebendigen, praktizierenden Gemeinde haben können, beantwortbar: Die Potentiale, die in den Bildern eingeschlossen sind, werden in einer bestimmten Hinsicht abgerufen. die Bilder „werden“ in diesem Prozess zu etwas anderem. Sie „werden“ zu „Andachtsbildern“.

Jetzt aber nicht so, dass den Bildern Willkür angetan würde, um irgendwie die Religion oder eine bestimmte theologische Sichtweise zu retten. Vielmehr zeigt sich gerade an den Andachten, indem sie das Bild als Bild in seiner Eigenheit respektieren, dass im Bild etwas schon vorhanden sein muss, dass diese Inspiration des Betrachtenden bewirkt, zumindest aber ermöglicht; es muss etwas sein, was dem Charakter des Denkens-an (Hannah Arendt), der Andacht eben, entspricht. Die Andachten wecken diejenigen Potenzen, die in den Bildern stecken, in diesem Kontext aber erst vor Augen geführt werden (können).

Wo der Künstler, ausgehend von einer imaginativen Empfindung, auf der Basis handwerklicher Fähigkeiten zu „notwendig“ so gestalteten Farben und Formen findet, bringt die Bildmeditation in der Andacht die in den Farben und Formen ruhenden Kräfte zur Entfaltung und damit vor der Gemeinde zum Sprechen. (Darin kann auch Verstörendes zur Sprache kommen, wie ich aus Gesprächen mit Besuchern weiß; die Kraft kann etwa als „zu gewaltig“ erlebt werden. Gleichwohl gilt gerade auch dann, dass die Bilder den Betrachter auffordern, sich dieser Kraft „zu stellen“ und sie in sein Leben zu integrieren).

Der Meditierende und die Gemeinde, beide dauerhaft das im Altarraum stehende Bild vor Augen, kommen in der Andacht in eine gemeinsame Meditation. Das Bild konzentriert!

Ein Gefühl, gemeinsam im Betrachten des Bildes einem „Sinn“ nachzugehen, kann sich ausbreiten – gestützt durch die sinnliche Wahrnehmung des Bildes: Ohr und Auge werden angesprochen. Ein dialogischer Prozess zwischen Bild, Wort und betrachtendem Hörer entsteht. Die Gleichzeitigkeit von Bildanschauung und „gutem Wort“ schafft eine Atmosphäre der Zentrierung und damit zunehmend der Zeitlosigkeit. Ein ruhiges Angekommensein bei sich und in der Welt. Ein wohltuendes Zusammenspiel von sinnlicher Wahrnehmung, Ruhe und Gemeinschaftsgefühl kann sich einstellen – ein Beruhigt sein in dieser unruhigen Welt – Beheimatung.

Je komplexer der Mensch über seine Sinne angesprochen wird, umso stärker wird diese Wirkung erreicht. Zudem erzeugt die Bildmeditation bei all denen, die sie mittragen, neue innere Bilder, die dann auch außerhalb der Andacht in den Alltag hineinwirken können.

Die für die Andachten ganz spezifisch mit Blick auf die Bilder ausgesuchte Musik durch Frau Chuchrak und Frau Böhm unterstützte diesen Prozess eindrucksvoll – Sinnlichkeit und Sinn gehören offenbar nicht nur sprachlich zusammen.

„Sinn“ heißt im Mittelhochdeutschen „Richtung“: wer die Kirche nach einer solchen Andacht verlässt, kann für sein Leben wieder eine Richtung gefunden haben.

Was gehört und gesehen wird, wird im Herzen der Betrachtenden und Hörenden als Erlebtes präsent. Damit entsteht eine Unmittelbarkeit, die – und das ist für mich entscheidend – sowohl das Spirituelle wie das Künstlerische zur Entfaltung bringt. Und dann kann in den Bildern eine Kraft entdeckt werden, die als „dynamis“ und „virtus“ in ihnen gegenwärtig ist, und die durch das „gute Wort“ in der Meditation in der Gemeinde zur Entfaltung kommt.


Literatur

1. Hans Belting, Bild und Kult, München, 2004, 6. Aufl.
2. Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 2000.
3. Arnold Angenendt, Gottes und seiner Heiligen Haus, in: Imagination des Unsichtbaren, 1200 Jahre Bildende Kunst im Bistum Münster, Münster 1993.
4. Herbert Fendrich, die Christen und die Bilder, in: Imagination des Unsichtbaren, 1200 Jahre Bildende Kunst im Bistum Münster, Münster 1993.
5. Heinrich Lützeler, Führer zur Kunst, Freiburg, 1956.
6. Peter Sloterdijk, Sphären I, Blasen, Frankfurt, 1999, 3. Auflage.
7. Hannah Arendt, Denktagebuch, Erster Band, München, 2002.
8. Erich Auerbach, Mimesis, Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern, 1959.
9. Heinz Schlaffer, Flüchtige Wahrnehmung von Kunst, in: Merkur 710, Juli 2008.
10. Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos, Hamburg 1999.
11. Willi Baumeister, Das Unbekannte in der Kunst, Stuttgart 1947.
12. George Steiner, Von realer Gegenwart, München 1990.

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